Kein Mensch malt so. Nicht nur gegenständlich, sondern so schmerzhaft realistisch, dass selbst die Neue Sachlichkeit fast postimpressionistisch wirkt. Als liefe ein Mensch mit der größten Selbstverständlichkeit in Weste, Kniehose und Rock, mit Perücke und Dreispitz durch die gleichgeschaltete Menge unserer Zeitgenossen, die erschreckt ausweicht und abwehrend die Hände hebt.
Es ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her, dass ein großer, rothaariger Mensch eines Abends nach einem Konzert, das ich in der Worpsweder Music Hall gegeben hatte, am Eingang des kleinen Theaters stand und mich ansprach. Er wolle mich malen, erklärte er mir ohne Umschweife, er hätte mich in einer Talkshow im Fernsehen erlebt und sofort den Wunsch verspürt, einen Rotwein mit mir zu trinken. Und das sei für ihn immer das untrügliche Zeichen, jemanden portraitieren zu müssen.
Wir setzten uns in meine Garderobe, ich trank ein kaltes Bier, er hielt ein Glas Rotwein in der Hand und präsentierte ein Gemälde, das er mitgebracht hatte, um mir zu beweisen, dass er kein Schwätzer, sondern ein ernstzunehmender Kunstmaler sei. Es war das Bildnis einer jungen Frau in einem irischen Pub, und die Art und Weise, wie er sie festgehalten hatte, erinnerte mich an die Portraitkunst eines Hans Memling oder Giovanni Bellini.
Ich hatte gerade in Wien einen Film gedreht, dessen kuriose Handlung sich um ein Gemälde von Pieter Bruegel d.Ä. drehte, das den Titel 'Die Heimkehr der Jäger' trug. Das war auch der Name des Films, und ich spielte in ihm einen Museumskopisten, der sich im Mikrokosmos alter Gemälde verliert und einen Amoklauf gegen die ihn umgebende, bedrückende Wirklichkeit beginnt.
Ich fragte ihn, ob das Bild in traditioneller Lasurtechnik gemalt sei und seine Augen begannen zu leuchten. Er hätte mehrere Monate an die Leinwand verschwendet, hatte die junge Frau in einer Kneipe in Wismar kennengelernt und irgendwann entschieden, sie zu portraitieren. Ich redete von der Anmut und Zerbrechlichkeit im Gesicht der jungen Frau, die ja zweifellos von heute sei, aber durch die Ferne, in der er sie mit seiner Malerei rücke, einen zeitlosen Zauber entfalte.
Mit den alten Meistern verbinde ihn ihr Hang zu Schönheit und Perfektion, antwortete er, und ihre Neugier an den dunklen Flecken unserer Seelen. Vielleicht sei der Ursprung alles Musischen ganz einfach nur die Fähigkeit zum Staunen, fuhr er fort, ihn interessiere das seltsame Wesen Mensch in seiner Zerbrechlichkeit und Verlorenheit. Was sei hinter der Maske, die jeder trägt, in aller Stille auffindbar? Dabei versuche er jedem Wesen auf Augenhöhe zu begegnen. „Ich liebe die Schönheit“, sagte er und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Rotweinglas. 'Die Hässlichkeit aber auch', fügte er hinzu und sah mich lächelnd an.
'Die Vergänglichkeit und der Tod gehören für mich in jedes Bild. Vielleicht schaffe ich es ja doch noch, die Neue Sachlichkeit ein wenig weiterzuentwickeln und ins Heute zu retten. Das Handwerk der Renaissance, die Lasurtechnik, also die wahre Ölmalerei, ist für mich die Königsdisziplin, sie kann mir bei der Verwirklichung dieses Traums hilfreich sein. Sie ist kaum erreichbar, aber einen lebenslangen Versuch ist sie wert.' Dann stand er auf und packte sein Ölgemälde wieder ein. 'Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom', sagte er, reichte mir die Hand und ging.
So begann eine Freundschaft mit diesem merkwürdigen Menschen, der mir wie ein großes Kind vorkam und uns durch sein hölzernes Brillengestell mit neugierigen, hellwachen Augen fixierte und nicht aufhören wollte, Fragen zu stellen, als hätte er uns noch immer nicht ganz verstanden und ergründet.
Dann wurde auch ich eines Tages zum Portraitierten und konnte beobachten, wie sorgfältig und altmeisterlich er dabei vorging. Es verblüffte mich, wie viele Details, Geschichten und andere Überraschungen er darin versteckte, und so kamen mir seine Gemälde bald weniger realistisch als surrealistisch vor; jeder nähere, sorgfältige Blick machte plötzlich eine fantastische Welt sichtbar, die sich einem zunächst geschickt entzogen hatte.
Hatte Manfred Jürgens sich anfangs mehr für meine Musik, Theater- und Filmarbeit interessiert, waren es schnell Katharina Johns Fotografien, in denen er etwas ihm Verwandtes sah, das tiefe, unverstellte Interesse am Menschen nämlich, der uns hier und da begegnet und verzaubert, weil er ein Geheimnis in sich trägt, das entdeckt und abgebildet werden will. Davon soll dieser Band mit den Bildern zweier wunderbarer Künstler zeugen, die beide auf ihre ganz eigene Art in traditionellen Techniken von der verstörenden Schönheit unseres Lebens erzählen.